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Punktgenau landete der schwarze Vogel auf dem Fensterbrett. Mit seinem dunklen Schnabel klopfte er zweimal gegen die Scheibe und wenige Augenblicke später öffnete sich das Fenster. Die junge Frau lächelte leicht, als der Rabe an ihr vorbei ins Zimmer flog. "Du bist später dran als sonst. Ist irgendwas passiert?" Der Vogel war hinter einem Wandschirm verschwunden und als er wieder zum Vorschein kam, hatte er die Gestalt einer jungen Frau, die einen pfirsichfarbenen Morgenmantel trug. Sie musste ihn eben erst angezogen haben, denn sie war noch damit beschäftigt ihn zuzubinden. "Ich hasse die Farbe von diesem Teil. Schaff dir mal was Neues an.", grummelte sie vor sich hin und fuhr sich durch ihr stacheliges, schwarzes Haar.
Das Lächeln der Frau am Fenster verrutschte ein wenig. Sie sah ihre Besucherin nicht an, sondern blickte hinaus auf die Straße. Ein leichter Wind kam auf und ließ den Pony ihres dunkelblauen Haares flattern. "Du könntest dir ja auch einfach mal selbst etwas mitbringen." Kurz herrschte Schweigen. "Ich glaube, du hast versäumt, auf meine Frage einzugehen. Ist irgendetwas passiert?"
Die schwarzhaarige Frau ließ sich seufzend in einem Sessel in der Recke nieder und überschlug die Beine. "Es werden immer mehr." Das war alles, was sie sagte. Die Blauhaarige hob überrascht die Brauen. Erst schloss sie das Fenster, dann wandte sie sich um, legte die Handflächen aneinander und spreizte die Finger. "Das ist doch gut. Wir brauchen mehr Leute, wenn wir etwas erreichen wollen." Sofort straffte sich die Haltung der Rabenfrau, ihre grünblauen Augen blitzten. "Aber Muriel..! Sie sind so undiszipliniert und völlig talentfrei! Sie machen so viel Arbeit! Sie sind ein unnötiges Risiko!"
Muriel seufzte, doch behielt sie ihren sanften Gesichtsausdruck bei. "Sie sind nötig. Sicherlich mag es dir im Moment anders erscheinen, Kaya, aber glaube mir: Bald schon wirst du sie brauchen." Die Schwarzhaarige sprang auf. "Ich brauche niemanden! Niemanden, hörst du?!" "Aua, das tut weh." Noch immer lächelte Muriel, nun aber nicht mehr wirklich glücklich. Kaya schwieg. Wenn sie gereizt war, brauchte sie immer einige Zeit, um sich zu beruhigen. Außerdem waren ihre sozialen Fähigkeiten über die Maßen rudimentär. Jemanden zu trösten war nichts, was sie sonderlich gut beherrschte. Zu mehr als einem genuschelten "War nicht so gemeint." war sie nicht fähig. Aber das schien ihrer Freundin schon zu reichen, denn ihre Züge hellten sich wieder sichtlich auf. Sie trat an Kaya heran und strich ihr sanft über die Wange. Eine solche Geste duldete diese nicht, egal, wie ihre Laune war. Und so kam es, dass sie die Hand unwillig wegschlug. "Lass das." Verärgert drehte sie ihren Kopf weg. Muriel lachte leise. "Du bist kalt wie eh und je." Das Tiermädchen erwiderte nichts, ihr Blick blieb starr, ihre Miene zeigte keinerlei Regung. "Ich frage mich wirklich, ob jemals wieder irgendjemand dein Herz erreichen wird."
Aus den Augenwinkeln funkelte Kaya die Blauhaarige an. "Sei nicht töricht." Was genau damit gemeint war, ließ sie offen, doch wieder schien Muriel zu verstehen.
Kaya war seit dem Tod ihrer Eltern noch härter geworden. Natürlich war das verständlich, Muriel hatte es auch sehr hart getroffen. Schließlich war Kayas Mutter ihre geliebte Lehrmeisterin gewesen. Doch fand sie ihre Vermutungen, dass Kaya sämtliche positiven Gefühle in sich abtötete, immer häufiger bestätigt.
Sie wurde immer verbohrter, der Hass in ihr schien jeden Tag anzuwachsen und ihre sozialen Kompetenzen blieben unterentwickelt.
"Du musst lernen zu verzeihen, Kaya. Hass bringt nur Rückschritte." "Niemand hat meine Vergebung verdient. Und ich werde bleiben, wie ich bin. Sie wollten mir folgen und ich habe ihnen vorher deutlich zu verstehen gegeben, was sie erwartet. Wehleidige Kinder und talentlose Schwertkämpfer, die für sich selbst die allergrößte Gefahr sind, kann ich nicht gebrauchen." "Niemand hat deine Vergebung verdient? Nicht einmal du selbst?" Wieder trat Muriel an das Fenster. Kayas Hände ballten sich zu Fäusten. "Ich weiß, dass du dir noch immer Vorwürfe machst wegen damals, aber selbst wenn du..." "Sei still! Ich hätte sehr wohl etwas tun können, ich hätte sie retten können, wenn ich nur da gewesen wäre..!"
Ruckartig drehte Muriel sich zu ihr um. Der viele Schmuck, den sie trug, klirrte laut. Sämtliche Sanftheit war aus ihrem Gesicht gewichen, stattdessen war ganz eindeutig Wut zu sehen. "Bist du eigentlich wirklich so dumm?! Glaubst du wirklich, dass du irgendetwas hättest tun können?"
Die Schwarzhaarige öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch sie bekam keine Möglichkeit dazu. "Sie hätten dich genauso getötet wie deine Eltern, du hättest keine Chance gehabt! Deine Mutter war eine große Magierin und dein Vater ein kampferprobter Mann. Aber im Schlaf hat ihnen das nichts genutzt. Sie waren um Längen erfahrener als du und trotzdem sind sie jetzt tot! Du tust immer so, als wärst du unbesiegbar und bräuchtest nichts und niemanden, aber das stimmt nicht! Du bist dumm, wenn du denkst, dass du alleine irgendetwas an den Verhältnissen hier ändern kannst. Du belügst dich selbst und du weißt es auch, aber du willst es nicht wahr haben! Mach die Augen auf, Kaya! Wenn du nicht endlich einsiehst, dass Einzelgänger hier keine Chance haben, lange zu überleben, werden sie dich eines Tages überrennen und dann werden sie dich töten! Nicht, weil sie so diszipliniert oder talentiert, sondern einfach, weil sie in der Überzahl sind! Du kannst sie nicht alle töten, nicht alleine! Und wenn du so weiter machst, wirst du eines Tages einfach dahingemeuchelt! Du wirst nicht in einem ehrenhaften Kampf sterben, sondern einfach in einer dunklen Gasse hinterrücks ermordet werden!"
Nach dieser langen Schimpftirade schnappte das Mädchen erst einmal keuchend nach Luft.
Kayas Miene war kalt und emotionslos. Ihre Hände waren nicht länger zu Fäusten geballt, stattdessen hatte sie ihre Arme vor der Brust verschränkt.
"Ich denke, ich werde jetzt gehen." Ohne zu Zögern trat sie ans Fenster und öffnete es. Muriels Wut schien mit einem Mal völlig verraucht, nun schien sie eher mit den Tränen zu kämpfen.
"Nein Kaya, bitte geh nicht!" verzweifelt packte sie die Schwarzhaarige am Arm, doch diese riss sich los. "Fass mich nicht an!"
"Ich hab einfach nur schreckliche Angst! Du sollst nicht sterben, ich...ich will dich doch nur beschützen..!"
Langsam wandte sich Kaya um. "Vielleicht solltest du für den Anfang mal dein Haus verlassen."
Sie hatte den Morgenmantel geöffnet und als der Stoff zu Boden glitt, erklang Flügelschlagen und der Rabe flog über die Dächer der Stadt davon.
tbc: Marmor - Baa'l - Dunkle Gassen